Sie war gerade zum zweiten Mal wiedergewählt worden, als Angela Merkel im Jahr 2009 in die USA kam, um vor dem Kongress zu sprechen. Nur wenige Tage vor dem 20. Geburtstag des Mauerfalls war die Rede in Teilen nostalgisch. Da sie in der DDR aufgewachsen war, sagte sie, hätte sie sich nie träumen lassen, „nicht einmal in meinen wildesten Träumen“, dass sie vor einer solchen Versammlung würde sprechen dürfen. Allein der Gedanke, in die Vereinigten Staaten von Amerika reisen zu können, sei jenseits ihrer Vorstellungskraft gewesen und erst recht dann, „hier zu stehen“.Sie fuhr fort, Amerika zu danken, diesem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Und sie dankte einer ganzen Reihe von US-Präsidenten, die während der Zeit des Kalten Krieges zuerst Deutschland verteidigt hätten, um so später die Wiedervereinigung erst möglich zu machen. Solche Worte wurden mit viel Applaus bedacht. Dann wandte sie sich der Zukunft zu.
Sie sprach von jenen Projekten, die gemeinsam mit der neu gewählten Regierung Barack Obama angepackt werden sollten, so ihre Hoffnung: dem Kampf gegen den Klimawandel, dem Ausbau des Freihandels, der Verteidigung der Menschenrechte. „Eine globalisierte Wirtschaft braucht auch einen internationalen Rahmen“, erklärte sie.
Nun, da Angela Merkel langsam die Weltbühne verlässt, ist die Erinnerung an diesen Moment und an diese Rede von großer Bedeutung. Denn es ist ihr größtes Verdienst, sowohl als deutsche Kanzlerin als auch als maßgebliche Politikerin Europas in der letzten Dekade, das Beste aus der transatlantischen Freundschaft, der europäischen Integration und der globalen Zusammenarbeit gemacht zu haben. Sie war es, die in dieser Zeit Wohlstand, Macht und Einfluss Deutschlands wachsen ließ.
Sie hat aus Deutschland einen Handelsgiganten gemacht, die wichtigste Wirtschaftsmacht in Europa und den bedeutendsten Partner für China, Russland und die USA. Und während sie all das tat, gelang es ihr, Nachbarn wie Partner davon zu überzeugen, dass sie sich nicht fürchten müssten vor diesem spektakulären Wachstum.
Diese Entwicklung war in Teilen auch nur möglich, weil das Wesen moderner deutscher Macht im Ökonomischen, Diplomatischen und Kulturellen liegt und nicht im Militärischen. Aber in Teilen wurde all dies auch Wirklichkeit wegen Merkel selbst. Es war der besondere Stil dieser ersten deutschen Kanzlerin – ihre Vorsicht, ihre Bescheidenheit, ja ihr fehlender Glamour –, der ihre Werte reflektierte, ihren Glauben an Konsultation und Kooperation.
Mit diesem Stil konnten Deutschlands Nachbarn leben: Führung ohne Drama. Immer sah man in ihr die „Sichere“ und Vertrauensvolle. Aber es war mehr als das. Ein auffälligerer, drängenderer, charismatischerer Mann hätte vielleicht eine komplett andere Stimmung rund um diesen Aufstieg Deutschlands erzeugt. Aber Merkel bewirkte weder Eifersucht, Ängstlichkeit noch Furcht.
Nur ganz selten wich sie ab von ihrer Bescheidenheit und Vorsicht. Doch wenn sie das tat, dann machtvoll. So war auch ihre Entscheidung, eine Million Flüchtlinge ins Land zu lassen, in mehrfacher Hinsicht umstritten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie je verstanden hat, dass einige Nachbarn Deutschlands ihre Entscheidung als eine Art von Imperialismus wahrnahmen, einen Akt unilateraler Hochnäsigkeit: Merkel fällte eine gravierende Entscheidung, die auch die Nachbarn betraf, ohne sie zurate zu ziehen.
Und doch glaube ich, wenn denn die Geschichtsbücher einmal geschrieben werden, wird es etwas anderes sein, das man ihr vorwirft: Sie versagte darin, Deutschland auf eine neue Ära vorzubereiten. Eine, in der die globale Zusammenarbeit und die transatlantische Freundschaft an ihr Ende gekommen sind. Es sind nur einige Jahre vergangen, und doch scheint es schon undenkbar, sich eine deutsche Führungskraft vorzustellen, die eine Rede im Kongress hält – vergleichbar jener Merkels von 2009.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg haben die USA nun im Weißen Haus einen Präsidenten sitzen, der Isolationist ist und selbst erklärter Nationalist. Ein Präsident, dessen Denkungsart bis zu seinem Wahlsieg keine Chance hatte, zum Mainstream in Amerika zu werden. Doch auch in Europa erstarken politische Bewegungen der radikalen Rechten und Linken. Ihnen gemeinsam ist der Wille, die „globalisierte Ökonomie“, für die Merkel warb, wie auch die Institutionen, die es dafür braucht, zu Fall zu bringen.
Im Osten Europas wird Russland von einer Regierung geführt, die genau das will. Daher hilft man den Bewegungen mit Geld und in den sozialen Netzwerken. Die Europäische Union, die Nato, ja, die liberale Demokratie sollen so zerstört werden. Und auch in Europas Süden gibt es Extremisten anderer Art, die weiter aktiv sind. Obwohl sie einige Niederlagen erlebten, geben sie nicht so schnell auf.
Für diese Veränderungen ist Merkels vernünftiges, rationales, multilaterales Deutschland nicht gerüstet. Obwohl sich in jüngster Zeit die Militärausgaben leicht erhöhten, hat man den Deutschen immer noch nicht klargemacht, dass sich ihr Verständnis von Macht ändern muss. Die Deutschen brauchen jetzt eine richtige Armee mit elaborierteren Waffen und professionelleren Soldaten, um ein revisionistisches Russland in die Schranken zu weisen und abzuschrecken.
Die Deutschen müssen auch den nächsten Schritt im Auge haben: Es muss zur Gründung einer europäischen Armee kommen und dazu braucht es eine wirkliche gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Noch bekennt sich die Nato zu Deutschland. Das US-amerikanische Militär fühlt sich besonders den Deutschen weiter verpflichtet.
Aber die deutsche Gesellschaft scheint noch weniger darauf vorbereitet zu sein, was passiert, wenn die USA – unter Trump oder vielleicht einem seiner Nachfolger – dauerhaft das Interesse verlieren, Europa zu verteidigen. Wenn das geschieht, wären die Europäer viel besser bedient, endlich darüber nachzudenken, wie sie sich besser verteidigen können. Und wie sie ihre Werte – politisch, rhetorisch und militärisch – in dieser neuen Ära promoten.
Als jemand, der guten Grund hat, die Demokratie zu begrüßen, und auch ein tiefes Gefühl dafür, wie und warum Demokratie scheitern kann, hätte Merkel diese Entwicklungen kommen sehen müssen. In ihrer Rede vor dem amerikanischen Kongress endete sie mit einer Anspielung auf die Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus von Berlin, eine Kopie der amerikanischen Liberty Bell in Philadelphia. Sie sei, sagte sie, „ein Symbol, das uns daran erinnert, dass Freiheit nicht von selbst kommt. Man muss dafür kämpfen und sie immer wieder verteidigen, jeden Tag unseres Lebens.“
Ist Deutschland, das Deutschland nach Angela Merkel, bereit, diesen Kampf zu führen? Wir werden es bald herausfinden.
