Die amerikanisch-polnische Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum hat eine ganz eigene Perspektive auf Europa. Ein Gespräch mit Julia Korbik und Thore Barfuss über Großmächte und russisches Geld.
The European: Frau Applebaum, warum haben immer noch so viele Menschen ein schlechtes Bild von Osteuropa?
Applebaum: Weil sie noch nicht da waren und keine Ahnung haben, was dort passiert. Sie stecken immer noch in alten Stereotypen fest. Es ist einfach nicht sinnvoll, den Osten noch als separaten Teil Europas zu betrachten. Wir sprechen doch auch nicht mehr vom österreichischen Habsburger-Reich oder dem napoleonischen Frankreich.
The European: Was muss passieren, damit sich das ändert?
Applebaum: Wir müssen aufhören, die osteuropäischen Länder – oder genauer, die zentraleuropäischen – als ehemalige kommunistische Länder zu bezeichnen. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme dieser Länder unterscheiden sich nicht vom Rest des Kontinents.
The European: Haben Sie dafür ein Beispiel?
Applebaum: Es gibt einen starken rechten Flügel in Ungarn, aber ebenso gibt es einen in Frankreich – und der ist sogar noch größer. Die Wirtschaft in Bulgarien schwächelt, aber wissen Sie was? Die in Italien ebenso! Und genau wie im Westen gibt es auch im Osten Erfolgsgeschichten. Polen hat 2009 keine Rezession erlebt. Lettland zwar schon, aber es konnte sich gut davon erholen.
The European: Bevor wir über Polen sprechen, würden wir gerne noch über Europa reden. Sie haben Ihre Perspektive auf den Kontinent mal als „merkwürdig“ beschrieben.
Applebaum (lacht): Ja, ich finde es ehrlich gesagt sogar schwierig zu erklären, was meine Perspektive genau ist. Mit Ausnahme einer kurzen Zeit in den USA habe ich in den letzten zwanzig Jahren in Europa gelebt. Ich war entweder in Polen oder Großbritannien, habe in Deutschland und Ungarn gearbeitet und ein bisschen in Frankreich. Ich kann also vor allem von diesem Standpunkt aus kommentieren.
The European: Haben Sie denn in Ihrer langen Zeit hier eine Antwort gefunden auf das berühmte Henry-Kissinger-Zitat „Wen rufe ich an, …
Applebaum: … wenn ich Europa sprechen will?“ Ich wünschte, ich könnte den Amerikanern Europa besser erklären. Und im Grunde genommen mache ich das auch mit meinen Kolumnen. Aber ich weiß immer noch nicht, wen man anrufen muss. Wobei, vielleicht ist es seit Neuestem Angela Merkel.
„Ja, es ist ein Krieg – aber ein ziemlich merkwürdiger“
The European: Warum gerade sie?
Applebaum: Die Krim-Krise hat etwas in Europa verändert. Nicht nur die EU-Institutionen wurden aus Verhandlungsprozessen ausgeschlossen, sogar die Polen und die Schweden – beide spielten zuvor eine sehr wichtige Rolle im Integrationsprozess Osteuropas. Merkel war plötzlich die einzige Person, die mit Putin sprach. Das war sehr befremdlich.
The European: Vielleicht liegt das an den sprachlichen Gemeinsamkeiten. Merkel spricht Russisch, Putin Deutsch.
Applebaum: Das ist keine zufriedenstellende Antwort! Andere Leute sprechen andere Sprachen. Ganz im Ernst, dieser Dialog hat viele Leute geschockt. Für die Osteuropäer war es entsetzlich, dabei zusehen zu müssen, wie Deutsche und Russen gemeinsam die Zukunft von Europa ausdiskutierten.
The European: Im Februar 2014 haben Sie in einem Artikel geschrieben, der Ukraine-Konflikt sei kein Krieg und nicht mit Waffen zu gewinnen. Wie stehen Sie heute dazu?
Applebaum: Ich bin mir nicht sicher, in welchem Kontext ich das geschrieben habe. Wenn ich über die Lage im Inneren der Ukraine geschrieben habe, dann stimmt die Aussage immer noch. Der Unterschied ist, dass Russland seitdem in die Ukraine einmarschiert ist.
The European: Darauf wollten wir hinaus.
Applebaum: Es ist eine Invasion. Und natürlich waren Waffen nötig, um die Russen vom Durchmarsch abzuhalten. Die Situation hat sich seit Februar dramatisch verändert. Ja, es ist ein Krieg – aber ein ziemlich merkwürdiger.
The European: Was macht ihn so merkwürdig?
Applebaum: Dass er in so vielen verschiedenen Sphären geführt wird: in Propaganda-Schlachten, wirtschaftlich und auf den Straßen. Es mag sein, dass wir noch nicht das Ende der militärischen Auseinandersetzungen gesehen haben. Es sind immer noch russische Truppen in der Ukraine.
The European: Putin hat gesagt, dass die Krim Teil von Russland ist. Als Historikerin: Stimmen Sie dem zu?
Applebaum: So gesehen ist das Elsass auch ein Teil von Deutschland und Irland ein Teil von Großbritannien. Man kann solche Argumente oft anbringen. Die Krim wurde etliche Male ethnisch gesäubert, die Ureinwohner leben schon lange nicht mehr dort. Stattdessen eine große Anzahl pensionierter sowjetischer Militärs. Das ist ziemlich einmalig. Aber wenn wir anfangen zu argumentieren, was historisch wem gehört und die Grenzen per Gewalt ziehen, kommen wir sehr nahe an eine Situation, die wir eigentlich nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen.
The European: Es gibt viele Menschen in Deutschland, die die harsche Kritik an Russland in den Medien und der Politik für Russlands Kurs mitverantwortlich machen.
Applebaum: Das stimmt doch gar nicht, wir haben die Russen nicht wirklich hart kritisiert!
„Gazprom ist russische Außenpolitik“
The European: Sollten wir sie mehr kritisieren?
Applebaum: Putin hat seine Macht in den letzten 15 Jahren vor unseren Augen gefestigt und ausgebaut. Das hat er gemacht, indem er die Zivilgesellschaft zerstört, die Pressefreiheit eingeschränkt und die Privatwirtschaft geschwächt hat. Und: Er hat das alles sehr offensichtlich gemacht.
The European: Meinen Sie, Putin hatte einen so lang angelegten Plan?
Applebaum: Ja. Er hat die Dekade zwischen 1990 und 2000 damit verbracht, russisches Geld zu stehlen und damit seinen eigenen Wirtschaftsklüngel heranzuziehen. Heute herrscht dieser Klüngel über Russland. Es gab so gut wie keinen Widerstand dagegen und nur sehr wenig Kritik daran. Erst mit der Invasion in der Ukraine ist die Kritik lauter geworden. Aber es gibt natürlich noch Dialog, Putin spricht immer noch mit einigen europäischen Führern. Mit Silvio Berlusconi zum Beispiel hat er in Mailand angestossen.
The European: Auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder pflegt ein inniges Verhältnis zu Putin.
Applebaum: Die Frage, die sich stellt, ist: Wo ziehen wir die rote Linie? Wie weit erlauben wir Putin zu gehen? Denn auf der Propaganda-Seite bereitet Putin das, was jetzt passiert, schon viele Jahre vor – auch in Deutschland.
The European: Haben Sie dafür ein paar Beispiele?
Applebaum: Russland subventioniert Kultureinrichtungen in Deutschland. Viele der Leute, die im deutschen Fernsehen über Russland sprechen, arbeiten auf die eine oder andere Weise für das Land. Es gibt eine Menge russischer Unternehmen und Investitionen in Deutschland. Russisches Geld ist nur sehr selten neutral. Denken Sie an Gazprom.
The European: Eine der größten Firmen der Welt und Teil der russischen Strategie.
Applebaum: Gazprom ist eine Form von russischer Außenpolitik. Das ist nicht dasselbe wie – sagen wir – Shell. Gazprom gehört den Leuten, die den Kreml kontrollieren und ist eines ihrer Werkzeuge. Gazproms Aktivitäten in Deutschland – einschließlich des Kaufs eines Fußballvereins – ist russische Propaganda.
The European: Also sind Deutschland und der Rest des Westens mitverantwortlich, dass Russland geworden ist, was es ist?
Applebaum: Es hat alles mit Korruption zu tun. Wenn man sich anschaut, wie die russischen Oligarchen reich geworden sind: Die haben fast alle westliches Offshore Banking benutzt. Sie haben ihr Geld zusammen mit der russischen Mafia angelegt. Die Firmen haben ein Doppelleben geführt – ein legales und ein illegales.
The European: Auch in Europa haben wir Offshore-Systeme, wie die „Luxembourg Leaks“ gezeigt haben.
Applebaum: Ja, das ist ein Echo davon. Die Russen haben den Rest der Welt inspiriert, es ihnen nachzumachen. Es gab mal eine Zeit, da war Offshore Banking eine windige Angelegenheit. Jetzt ist es riesig. Es ist nicht mehr nur russisches Geld, sondern auch kasachisches, chinesisches und so weiter. Europa und die USA ermöglichen diese Form der Korruption auf der ganzen Welt. Das ist eine Entwicklung, die mich sehr beschäftigt.
The European: Was Sie ebenfalls sehr beschäftigt, ist Polen. Haben Sie die polnische Entwicklung hin zu einem der wichtigsten europäischen Länder erwartet?
Applebaum: Als ich 1987 nach Polen kam, war es ein kommunistisches Land. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm mal werden wird. Und obwohl ich Ihre Analyse teile, bin ich mir nicht sicher, ob die Polen selbst es auch tun.
The European: Wieso?
Applebaum: Die Polen sind sehr kritisch mit ihrem eigenen System. Sie fühlen sich in ihrer neuen Rolle noch sehr unsicher und wissen nicht, wie sie von außen betrachtet werden.
„Polen hat eine Großmacht-Mentalität“
The European: So überraschend ist das doch gar nicht. Auch im Westen trifft man immer wieder auf Vorurteile gegenüber Polen.
Applebaum: Es dauert zehn Jahre, bis das Bild eines Landes tatsächlich der Realität entspricht. Ich habe das Gefühl, dass sich in der Wirtschaft und Politik die Wahrnehmung von Polen schon gewandelt hat. Wir sind nicht so weit entfernt davon, dass das auch in der Gesellschaft passiert.
The European: Was macht Polen so wichtig?
Applebaum: Ein Teil der Antwort ist, dass Polen erfolgreich ist. Auch hier würden die Polen sagen: „Wir sind nicht erfolgreich!“ Außerdem ist Polen das einzige Land in seiner Region mit einer Großmacht-Mentalität. Es hat eine echte Außenpolitik, es denkt strategisch, es hat Institutionen, die strategisch über die Welt und das transatlantische Bündnis nachdenken. Polen ist ein Vorbild für viele andere Länder geworden.
The European: Für wen?
Applebaum: Zum Beispiel für die Ukraine. Viele der kleinen Länder, nicht nur in Osteuropa, denken über Rohstoffe oder andere Maßnahmen nach – aber nie auf einer höheren Ebene. Nach der tunesischen Revolution sagten mir die Tunesier: „Schickt uns Berater aus Polen, wir wollen wissen, wie dort die erfolgreiche Transformation gemanagt wurde.“
The European: Wir nehmen an, Sie kennen das „Weimarer Dreieck“?
Applebaum (lacht): Ja, klar.
The European: Glauben Sie, diese Allianz aus Polen, Frankreich und Deutschland funktioniert für Europa?
Applebaum: Es wird funktionieren, wenn die drei Partner es wollen. Es geht nicht darum, dass sie zu dritt Europa regieren, aber sie sollten ihre Außenpolitik gemeinsam gestalten. In sehr vielen Punkten haben sie die gleichen Werte, Ansichten und Sorgen. Für lange Zeit war das Problem, dass die Franzosen die Polen nicht ernst genommen haben. Das ist nicht mehr der Fall.
The European: Sondern?
Applebaum: Das Problem ist heute, dass Deutschland seine Außenpolitik für sich macht. Ich bin nicht sicher, ob wir unbedingt das Weimarer Dreieck brauchen. Was wir aber garantiert brauchen, ist, dass die drei Länder zusammenarbeiten.
The European: Unsere letzte Frage hat immer mit dem berühmten deutschen Dichter Heinrich Heine zu tun. Sie kennen ihn?
Applebaum (leicht konsterniert): Natürlich.
The European: Klar, Sie leben ja auch schon seit 20 Jahren hier.
Applebaum (immer noch konsterniert): Eigentlich habe ich Heine in der Uni gelesen. (fängt an zu lachen)
The European: Könnten Sie dann bitte folgenden Satz vervollständigen: „Denk ich an Europa in der Nacht …“
Applebaum: … frage ich mich, wo es ist. Ernsthaft, wo bist du, Europa?
Übersetzung aus dem Englischen