Verschläft Europa seine Chance?

“Das ist die Stunde Europas.”

Als ein durchaus vergessenswerter luxemburgischer Außenminister diese Worte 1992 sprach, schienen sie große Dinge anzukündigen: Nach dem Ende des Kalten Kriegs würden die Europäer, nicht die Amerikaner den Bosnien-Konflikt und vielleicht so manches andere lösen. Er irrte. Die Balkan-Konflikte wurden schließlich “gelöst”, aber nicht durch die Europäer, sondern durch die USA und die Nato. Der europäische Einfluss in Washington schwand – und schwand weiter während der Bush-Ära.
2009 könnte die Stunde Europas schlagen. Würden die deutsche Kanzlerin, der britische Premier und der französische Präsident – unterstützt von ihren Pendants in Süd-, Ost- und Nordeuropa – am 21. Januar ins Weiße Haus spazieren, um ernst gemeinte, realistische Beiträge etwa zum Krieg in Afghanistan, zum Wiederaufbau des Iraks, zu den Atomverhandlungen mit dem Iran und vielleicht sogar zum Klimawandel zu machen, würde der US-Präsident zuhören. Er würde nicht nur zuhören. Er würde, egal ob Demokrat oder Republikaner, den Europäern sofort jene “Führung” oder “Partnerschaft” anbieten, die sie angeblich immer anstreben. Angesichts eines kollabierenden Immobilienmarkts, hochschnellender Lebensmittelpreise, einer schwachen Konjunktur und hoher Spritkosten wird der neue Präsident die Hände voll zu tun haben. Daher würde er eine Gruppe Europäer, die etwa mit einem Plan zur Befriedung Südafghanistans zu ihm kämen, mit offenen Armen empfangen, ja wie die Abordnung einer Mitsupermacht, wenn sie das wollen.
Doch ich wette, dass es in allen europäischen Regierungen nicht ein Dutzend Leute gibt, die überhaupt darüber nachdenken. Dies ist die Stunde Europas, aber wissen es die Europäer?
Den Reaktionen auf den Besuch Barack Obamas nach zu urteilen: Nein. Der Applaus für jenen Satz seiner Berliner Rede, der zur Beteiligung Europas an der Weltpolitik aufrief, war auffällig dünn: “Amerika kann das nicht allein schultern. Das afghanische Volk braucht unsere Soldaten und Ihre Soldaten.” Ebenfalls kein Reißer: “Wir können eine neue, globale Partnerschaft bilden”, um den Terror zu bekämpfen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach schroff von “den Grenzen” des deutschen Beitrags in Afghanistan und machte damit klar, dass sie allzu hohe Erwartungen gar nicht erst aufkommen lassen will. Die Zurückhaltung ist zwar verständlich: Keiner wird mit einem durchreisenden Präsidentschaftskandidaten neues Terrain betreten wollen. Gleichwohl waren die Reaktionen bezeichnend. “Niemand hat darüber nachgedacht”, sagte mir ein europäischer Diplomat, als ich ihn fragte, welche Ideen man der neuen Regierung vorlegen wolle. Die Wahrheit, die durch den kurzen Obama-Besuch zu Tag kam, lautet: Nur wenige europäische Politiker sehen die Veränderungen in Washington als Gelegenheit, Neues zu versuchen. Die meisten empfinden einfach nur Erleichterung, dass Bush bald weg ist, verbunden mit Furcht vor dem, was danach kommt.
Je näher der Wahltermin rückt, desto größer wird diese Furcht. Auf perverse Weise war die katastrophale Diplomatie Bushs ein Geschenk des Himmels für Europas Politiker. “Bush erlaubte ihnen, den radikalen Islamismus als eine verständliche, ja legitime Antwort auf die Heuchelei und die Ungerechtigkeiten der US-Politik wegzudeuteln”, schrieb kürzlich ein britischer Kolumnist. Er erlaube ihnen zudem, den amerikanischen “Unilateralismus” als Vorwand für ihren Mangel an Initiative zu nehmen und die schlechte US-Diplomatie als Entschuldigung für ihr Nichtstun.
Kein Wunder, dass der Obama-Beweihräucherung ein gewisses Unbehagen beigemengt war. Der eine Präsidentschaftskandidat redet von “globaler Partnerschaft”, der andere erinnert die Amerikaner daran, dass “die USA den Kalten Krieg nicht allein gewonnen haben”. Die Möglichkeit einer neuen transatlantischen Allianz erscheint erschreckend real.
Aus dem Englischen von Daniel Eckert

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